Die Stachelkugel und die Fledermaus

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Kurz vor dem Eindunkeln kommt die hungrige Stachelkugel jeweils bei uns im Garten vorbei.
Grunzend nähert sie sich auf direktem Weg dem Katzenfutter, angehäuft auf einem Teller. Es macht mir Freude ihrem Kauen zuzuhören

Gestern Abend war es anders. Ich sass auf der Veranda, einige Meter vom Futterteller entfernt. Zwei Meter vor seinem Ziel stoppte der Igel, schnupperte, drehte ab, liess das Futter und mich auf dem Trockenen sitzen. Eventuell störte sein Riechorgan Fischgeruch, herrührend von meinen Schwimmeinheiten im Rhein.

Gerne steige ich auf der Kraftwerksinsel in den gebremsten Basler Bach, welcher dort einem Seebecken gleicht.
Für mich ist es ein Ausdruck von Freiheit die Augen zu schliessen, drauflos zu crawlen und später zu schauen, wohin es mich verschlagen hat.
Wiederholt fand ich mich in der Mitte des Stroms wieder, weit weg von meinem Ziel, eine der zahlreichen Bojen.

Regelmässig sehe ich auf der Kraftwerksinsel ein Paar.
Beide halten ihren Blindenstock in der linken Hand, sie marschiert hinter ihrem Partner, ihre rechte Hand ruht auf seiner Schulter. Er hält ihren gemeinsamen Assistenzhund straff an der Leine. Sie marschieren schnell, sicher, voller Vertrauen.
Bei der Einstiegstreppe zum Rhein angekommen, steigt der Mann diese runter, lässt den Hund von der Leine. Dieser geniesst das Rheinbad und die Suche nach den Hundebiskuits, welche sein Halter in verschiedene Richtungen wirft.
In der Zwischenzeit wartet die Frau oben, das Kinn auf ihren Stock gestützt, zuhörend.
Nach 5 Minuten marschiert das Trio in zügigem Tempo weiter.

Nach dem Eindunkeln schaue ich fasziniert der Kamikaze-Pilotin zu. In rasendem Tempo verändert die kleine Fledermaus, ihr wird ein schlechtes Sehvermögen nachgesagt, abrupt ihre Flugrichtung, stürzt sich in die Tiefe, um Nachtfaltern und Mücken nachzujagen, welche sie sie mit ihrem Gehörsinn geortet hat.

Ist mein Tank gefüllt, funktioniert mein innerer Kompass beim Wandern oder einer Stadtbesichtigung ordentlich. Ist mein Akku leer, ist mein Orientierungssinn definitiv offline.
So wanderte das Paar vor Jahren im Schwarzwald erfolgreich in einem grossen Kreis.
In Firenze lockte meine Geliebte mich in eine Trattoria, bevor wir uns vollends verirrten.

Oft mag ich den Kitzel mir meiner Wege nicht hundertprozentig sicher zu sein.
Da die Redewendung “selbst ist der Mann” bei mir nicht immer Gültigkeit hat, ist der Einsatz des klugen Kleingeräts zwischendurch erwünscht.

Heute half das kluge Gerät einem holländischen Paar nicht. Sie und er kratzten sich beim Tinguely-Museum ratlos am Helm. Sie schienen nicht sehr amüsiert zu sein, die Fahrradroute nach Kaiseraugst nicht finden zu können.
Ich lotste sie bis an die deutsche Grenze und hoffe, dass meine Infos ihnen halfen, den gewünschten Campingplatz zu finden.

Glücklicherweise ist meine Partnerin tolerant. Einmal strandeten sie und ich auf einer Fahrradtour in Ostdeutschland auf einem Acker unter einem Windrad, wo wir uns hinsetzten, etwas assen und sie dann bestimmte, wie es weiterging.

Zwischendurch, ich bin ehrlich, beneide ich die Stachelkugel und die Fledermaus um ihren präzisen Wahrnehmungs- und Orientierungssinn.

25. Juli 2022

2 Kommentare

  • Lieber Markus,
    Ich habe Deine Zeilen sehr genossen. Sie haben mich in meine Kindheit zurück versetzt, meine Mutter liebte Igel über alles. Dass sie die Igel nicht noch gestreichelt hat ist fast ein Wunder

    Liebe Grüsse Cécile

  • Lieber Markus
    Vielen Dank für deine orientierenden Worte von heute.
    Ich geniesse den Text, auf einer Bank sitzend im Schatten, direkt am Ufer des Starnbergersees.
    Es passt alles zusammen…
    Lieben Gruss
    Beat