Ring will es wissen

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Unverhofft, unbekümmert, zielgerichtet, scheinbar sehnsüchtig rollte er schnell auf sein Ziel zu, eine Dole im Dorfzentrum von Riehen.
Ohne Abschiedsgruss liess der Ehering meiner Mutter sich an einem prächtigen Spätsommertag in den dunklen, nassen Kanalschacht fallen.
Bis sie einem spielenden Kleinkind zuwinkte, hatte er 68 Jahre lang den Ringfinger meiner Mutter geziert.
Ihren Armschwung nutzte das goldige Schmuckstück, um sich unwiderruflich abzulösen.
Die hochschwangere Mutter des Kleinkinds versuchte vergeblich sein Abtauchen zu verhindern.

Während ich in in Schockstarre verharrte, reagierte meine Mutter sehr gelassen. Sie kommentierte den Vorfall mit den Worten “es ist bloss ein Gegenstand”!
Surreal wirkte die Szene auf mich. Es machte den Anschein, der Ring hätte ein Eigenleben entwickelt, erwartungs- und hoffnungsvoll eine Entscheidung getroffen und umgesetzt.

War es ihm langweilig geworden? Wollte er Neues sehen und erleben? Wollte er uns die Philosophie von Ayn Rand veranschaulichen?
Ayn, gebürtige Russin, vertrat ihr Leben lang die Überzeugung, dass einzig der Egoismus ein Leben in persönlicher Freiheit ermöglicht. Ihrer Ansicht nach müsste jeder Mensch sich selbst an die erste Stelle setzen. Nur so sei es möglich, dass es einer Gesellschaft gut gehe. Den Einfluss des Staates wollte sie auf ein absolutes Minimum reduzieren.
In ihrer Wahlheimat USA stiess ihre Theorie vielerorts auf grosses Echo.
Für Donald Trump beispielsweise ist Ayn Rand eine wichtige Inspirationsquelle. Kritische Stimmen hingegen nennen sie selbstsüchtig.
Informationen über sie entnahm ich der sehr interessanten Lektüre “Die SäuferInnen der Philosophie”, verfasst von Benjamin Frederich.

Am gleichen Nachmittag durfte ich einem betagten Mann, welcher im gleichen Heim wie meine Mutter lebt, beistehen.
Ein Schwächeanfall hatte ihn im Dorfzentrum von Riehen übermannt, hilflos sass er auf einer Bank, unfähig sich zu erheben. Lange winkte er mir zu, bis ich ihn wahrnahm. Im Nu konnte ich ein Taxi für ihn organisieren.
Zwei Tage später bedankte er sich überschwänglich bei mir, nannte mich seinen Retter.
Wenn jede Rettungstaktion so einfach wäre!

24. September 2024


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