Unterhaltsam ist die fast fünfstündige Reise nach Mailand, welche vor 7 Uhr beginnt.
In Sissach quetscht eine gewichtige Frau meine Geliebte an das Fenster, zieht eine Schnute und den Kopfhörer über.
Das ganze Abteil hört ihrem Sound zu. Vor Lenzburg wiegt der Heavy Metal-Sound die Musikliebhaberin in den Schlaf.
Unser Abteil im Zug nach Mailand offeriert breite Sitze. Ein wuchtiger Hund nimmt Platz, entspannt sich, kotet vor Bellinzona.
Im Nu verbreitet sich ein bestialischer Geruch, ist der Sitz dunkelbraun, das Herrchen des Hundes sehr bleich, das Abteil leer.
Um 16:32 Uhr entlässt uns TRENITALIA in Treviso. Ich möchte die Stadt kennen lernen, in welcher die Ahnen meiner Geliebten gelebt hatten.
Treviso scheint im Schatten des vierzig Kilometer nahen Touristenmagnets Venedig zu schlummern.
Wenige Leute erkunden mit uns die schöne città dell’acqua. Herrlich lässt sich den kleinen Kanälen entlang schlendern.
Fast nichts deutet auf die heftigen Bombardierungen der Alliierten hin, welche im Zweiten Weltkrieg die deutschen Besatzer aus der Stadt vertreiben wollten. Noch weniger auf die Luftangriffe der Österreicher im Ersten Weltkrieg.
Wütete nicht der Krieg in dieser Region, litt die Bevölkerung unter der massiven Steuerlast der italienischen Regierung, welche mit diesen Einnahmen ihre Kriegsschulden begleichen wollte.
Zudem erschwerte die weltweite Wirtschaftsdepression zwischen 1873 bis 1896 die Lebensbedingungen der einfachen Leute massiv.
Mehrere Male wurden Proteste der Bevölkerung im Veneto durch das Militär und die Polizei blutig niedergeschlagen.
1890 erlagen auch die Vorfahren meiner Geliebten den Lockrufen der brasilianischen Regierung, welche händeringend in Europa Arbeitskräfte suchte.
Unter Anderem waren vielen Grossgrundbesitzern die Leibeigenen davongelaufen, nachdem 1888 in dem südamerikanischen Staat die Sklaverei abgeschafft worden war.
Zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert waren 5,5 Millionen Menschen aus Afrika in den Sklavendienst nach Brasilien verschleppt worden.
Die brasilianische Regierung versprach auswanderungswilligen EuropäerInnen das Paradies auf Erden.
Zwischen 1876 und 1920 bestiegen 1,2 Millionen ItalienerInnen ein Schiff, um die knapp dreissigtägige Reise nach Brasilien anzutreten. Die Mehrzahl reiste 3. Klasse, im Schiffsbauch neben dem Maschinenraum. Katastophal waren Hyghiene und Ernährung.
Etliche überlebten die Reise nicht. Den bestellten Garten Eden fand auch Familie Branco im Süden Brasiliens nicht vor.
Es galt zu roden, Häuser zu bauen, anzupflanzen, Portugiesisch zu lernen, komplett neu anzufangen.
1934 begann Caetano Natal, der Grossvater meiner Partnerin, zusammen mit seinen Cousins bei Joaçaba den Fluss rio do peixe zu stauen, um Strom gewinnen zu können. Schritt für Schritt realisierte er seinen Traum, Landmaschinen industriell herzustellen.
1987 beschäftigte die Fabrik Branco Motores 800 Frauen und Männer.
Meine Partnerin sagt immer wieder “tempos difíceis criam homens fortes – schwierige Zeiten bringen starke Menschen hervor”.
Das moderne Treviso rühmt sich, Geburtsstätte der Kleidermarke Benetton und der Süssspeise Tiramisu zu sein.
Wunderschön dekorierte Schaufenster laden zum Shoppen unter Arkadengängen ein. Ausgedehnt und pittoresk ist das historische Zentrum. Abblätternde Fresken an Hausfassaden weisen auf Wohlstand in früheren Zeiten hin.
Eine Gedenktafel nahe bei der imposanten Piazza dei Signori erinnert an das Konzentrationslager, in welchem Zivilisten aus Slowenien und Kroatien vor mehr als neunzig Jahren vegetierten.
Immer wieder frage ich mich, wo Marli’s Familie früher gewohnt hatte, wie die einzelnen Personen sich gefühlt hatten, als sie ihre Heimat verliessen, welche sie nie wieder sehen würden.
Treviso berührt mich.
20. Mai 2024
Lieber Markus
Deine Geschichte berührt mich.
Du vermengst Einzelschicksale mit Weltgeschichte. Sehr authentisch.
Heute kaum mehr vorstellbar, aber jederzeit wieder möglich.
Ich habe dieses WE in Bern Orte meiner studentischen Phase besucht – Marzili, Uni, Weyermannshaus-Badi.
Es tat seeeeehr gut.
Lieben Gruss
Beat