Brașov

B

Bukarest empfängt uns heiss, ausgebreitet in einer riesigen Ebene.
Frauen und Männer verkaufen am Rand der Autostrasse ihre geernteten Feldfdrüchte. Nach Sinaia schlängelt sich die Strasse in Serpentinen die Karpaten hoch. Wir wähnen uns im tiefsten Schwarzwald. Die Fahrbahn touchiert förmlich Plattenbauten und alte Häuser.
Nach 22 Uhr erreichen wir Brașov/Kronstadt.

Von dichtem Wald und sanft geschwungenen Hügeln des Karpatengebirges umgeben geniesst Brașov in Rumänien seiner Altstadt, der klaren Luft und der nahen Wintersportanlagen wegen Kultstatus. Regelmässig besuchen Bären auf der Suche nach Nahrung im Winter die Aussenbezirke dieser Stadt, welche ein bisschen grösser als Basel ist.

Ich fühle mich in dieser wunderschönen Umgebung sofort wohl. Rumänien, fast sechsmal grösser als die Schweiz, ist ein mit Naturschönheiten überaus reich gesegnetes Land.

Wie in vielen rumänischen Ortschaften ziert der Stadtname in riesigen Lettern den Hausberg, ist von weitem sichtbar.
Die Altstadt, im Mittelalter von Frauen und Männern aus Sachsen erbaut, ist überaus pittoresk, lädt zum Bummeln und Verweilen ein. In ihrer Mitte thront die Schwarze Kirche.

Bei vielen Häusern blättert der Verputz ab, haben Alter, Sonne und Frost sichtbar Spuren hinterlassen.
Geld für Renovierungen scheint nicht vorhanden zu sein.
Vertrauen in die Regierung fehlt gänzlich. Die politischen Organe gelten in der Bevölkerung als korrupt, egoistisch und inkompetent.

Rumänien ist ein von Menschen enorm gebeuteltes Land, leidet heute noch an den Folgen des wirtschaftlichen Niedergangs in der Zeit des Kalten Kriegs.
Nicolae Ceaucescu blutete mit seinem Partei- und Staatsapparat von 1965 bis 1989 sein Heimatland konsequent aus. Die verordnete Misswirtschaft mündete in der Zahlungsunfähigkeit Rumäniens vor mehr als 40 Jahren.
Bis 1989 hatte Rumänien alle Auslandsschulden beglichen, die Zeche bezahlte die Bevölkerung auf brutalste Art und Weise.

Dumitru, der rumänische Schwiegervater unseres älteren Sohnes, schilderte uns die damaligen Lebensumstände.
Lebensmittel waren knapp und rationiert, die Regierung verteilte Bons. Die Menschen standen Schlange vor den Läden um diese einzulösen. Fleisch gab es kaum, es wurde für Devisen ins Ausland verkauft.
Sehr viele Menschen hungerten.
In den Karpaten erleidet das Thermometer im Winter regelmässig einen Kälteschock. Wohnungen durften auf maximal 12 Grad erwärmt werden. Warmwasser gab es höchstens einmal wöchentlich.

Wer sich kritisch äusserte, riskierte verhaftet und gefoltert zu werden. Angst, Verunsicherung hielten die Bevölkerung still und klein.
Derweilen liess der Diktator in Bukarest für sich und die Regierung einen riesigen Palast, das grösste zusammenhängende Gebäude in Europa, errichten.

Dumitru arbeitete damals als Mechaniker in der „Uzina de Tractoare Brașov.
Bis 1989 produzierten 23’000 Angestellte jährlich bis zu 50’000 Traktoren. Scheinbar war der Lohn gering, dafür war die Arbeitsstelle sicher.
Das Unternehmen unterhielt eine Berufsschule, einen Fussballverein mit Fussballstadion, ein Spital für die Angestellten und deren Familienmitglieder.

Nach der Revolution, welche am 16. Dezember 1989 mit Unruhen in Timisoara begann und in der Hinrichtung von Ceaucescu und seiner Ehefrau Elena am 25. Dezember 1989 gipfelte, brachen Produktion und Erträge der Traktorenfabrik dramatisch schnell ein.
Auf unserer Hochzeitsreise in Brasilien verfolgten meine Frau und ich damals den Sturz des Regimes in Rumänien live im Fernsehen.

Auch Dumitru verlor seine Stelle, fand schlussendlich durch Verwandte, welche bereits in Spanien lebten, Arbeit auf der Iberischen Halbinsel.
Schlussendlich blieb er 12 Jahre dort. Seine Frau Lucica und ihre beiden Töchter besuchten ihn jeweils in den Sommerferien.
Nach seiner Rückkehr nach Rumänien war er vier Jahre lang arbeitslos. Heute unterhält er in einem Staatsbetrieb Strassen in der Region Brașov.
Immer wieder schauen Bären ihm bei der Arbeit zu.

Das Werkgeländes der „Uzina de Tractoare Brașov umfasste 100 Hektaren. 2007 übernahm es eine Investorengruppe, heute thront das „Coresi Shopping Resort“ (CSR) auf diesem.
650 Meter lang ist die Fassade des Einkauftempels, welcher von zwei riesigen Parkfeldern umfasst wird.

Dumitru und Lucica opferten sich auf, damit ihre Töchter ein Hochschulstudium in Aberdeen, Schottland, absolvieren konnten.
Wie Dumitru und seine beiden Töchter verliessen in den letzten 30 Jahren fast vier Millionen Frauen und Männer Rumänien.
Das Land schrumpft, verliert viele gut ausgebildete Fachleute, welche im Ausland, vor allem im EU-Raum, mehr verdienen können.
Seit dem 1. Januar 2023 beträgt der gesetzlich festgelegte Mindestlohn in Rumänien knapp 600 Franken.

Die Statistiken besagen, dass Rumänien durch die Unterstützung von EU-Geldern seit 2007 wirtschaftlich hat profitieren können.
Dumitru ist skeptisch.

18. Juli 2023

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