Ein Taschenkalender erzählt

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Der eiskalte 31. Januar 1953 schenkte meiner achtzehnjährigen Mutter einen unvergesslichen Abend. Bis zum Morgengrauen tanzte sie mit Theo, zudem gewann sie bei der Tombola ein Fahrrad.
Dora’s Vater, Gottlieb, missfiel die Beziehung seiner Tochter zum zehn Jahre älteren Theo. Auch weil er Deutscher war.
Dass seine erste Ehefrau, Dora’s Mutter, welche 1943 an einer Lungenembolie im Kantonsspital Baden verstorben war, auch deutsche Staatsangehörige gewesen war, schien keine Rolle zu spielen.

Im winzig kleinen Taschenkalender aus diesem Jahr lese ich, dass am 22. Februar ein Friedensschluss zwischen Gottlieb und Theo stattfand.
Dies hielt Theo nicht davon ab, meiner Mutter am 14. April nach einem gemeinsamen Kinobesuch die Liebe aufzukündigen. Scheinbar wollte er mehr tatsächliche Liebesbeweise erhalten. Sie, eingeschüchtert von ihrem Vater, dass er sie aus der Familie verstossen werde, wenn sie schwanger würde, konnte Theo nicht entgegenkommen.
Noch heute kennt Dora die Heimadresse von Theo Ludescher: Schlossgasse 23, Obrigheim am Neckar. Gottlieb jubelte, als seine weinende Tochter ihm ihren Liebeskummer beichtete.

Ihrem Taschenkalender vertraute der Backfisch an, dass sie am Samstag, 9. Mai mit Reto Derungs getanzt und danach bei Edith geschlafen habe. Am 18. Mai stritten Dora und Reto, am 22. Mai erfuhr der Taschenkalender, dass Reto einen zu harten Bündner Schädel habe. Auch befremdete meine Mutter der Vorschlag von Reto, dass sie mit seiner Schwester für ein Jahr nach England gehen solle und man danach weiter schauen werde, ob, wie und was.
Nach diesem Datum schweigt des Kalenders Höflichkeit über Reto.

Am 11. Juli ist vermerkt, dass Dora Walter Rutz beim Tanzen kennenlernte. Sechs Tage später schaute das junge Paar das erste Mal zusammen einen Kinofilm an. Den Einträgen entnehme ich, dass meine Mutter in allen Jahreszeiten eine passionierte Kinogängerin war.
Die Kinos Sterk und Royal in Baden an der Limmat zeigten 1953 Filme wie “Verdammt in alle Ewigkeit” und “Julius Caesar”.

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, Dora’s Sohn versinkt ebenfalls liebend gerne in den Kinosessel, dem kommenden Geschehen auf der Leinwand entgegen fiebernd.

Theo, Reto und Walter bewiesen Geschmack. Auf den kleinen Schwarzweiss-Fotos aus dieser Zeit entdecke ich eine schlanke, junge Frau, deren attraktives Gesicht von langen Zöpfen keck eingerahmt wird.
Ich liebe diese Aufnahmen.

Bis September kommt in jedem Kalendereintrag Walter vor.
2024 spricht meine Mutter immer noch mit höchstem Respekt von diesem jungen Mann, welcher nach seinem ETH-Studium für ein Jahr in die USA arbeiten ging.
Ihren Äusserungen entnehme ich, dass sie sein Angebot, ihn in die Vereinigten Staaten zu begleiten, heute wahrscheinlich annehmen würde.

Who knows, worüber der Kalender in diesem Fall weiter informiert hätte?

14. November 2024

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