Bar Mizwa

B

Am Samstagmorgen, 30. Siwan 5784, setzte ich mir in einem hellen Raum von Or Chadasch eine Kippa auf.
3761 vor Christus setzte die Zeitrechnung des jüdischen Kalenders ein.

 Mit der Kippa, eine kreisförmige Mütze, drücken jüdische Männer ihren Respekt und ihre Ehrfurcht vor Gott aus. Gerne schloss ich mich dieser Tradition an.
Or Chadasch, neues Licht auf hebräisch, nennt sich die jüdische liberale Gemeinde der Stadt Zürich. Sie umfasst etwa 450 Mitglieder.

Wir reisten an, um der Bar Mizwa von Eyal beizuwohnen. Eyal ist der jüngste Sohn von Kathrin und German, deren Trauzeugen wir vor etlichen Jahren sein durften.
Mit dieser Zeremonie wurde Eyal in die jüdische Gemeinde aufgenommen. Fortan darf der sehr sympathische junge Mann im Gottesdienst aus der Tora, ein wichtiger Teil der hebräischen Bibel, vorlesen.
In der jüdischen Religion erreicht ein Mädchen mit 12 Jahren, ein Junge mit 13 Jahren die religiöse Mündigkeit.
Eyal bereitete sich beim Rabbiner von Or Chadasch gewissenhaft auf diesen Anlass vor.

Frauen und Männer sassen nebeneinander, Frauen übernahmen in diesem Gottesdienst wichtige Funktionen.
In etlichen liberalen jüdischen Gemeinden leiten Rabbinerinnen die Gottesdienste, im orthodoxen Judentum ist dieses Amt ausschliesslich Männern vorbehalten.
Im orthodoxen Gottesdienst trennt ein Vorhang oder eine andere Vorrichtung die Geschlechter voneinander.

Mich beeindruckte der Rabbiner von Or Chadasch. Er, gebürtiger Holländer, leitete mit Schalk und Witz durch die lebendige, religiöse Feier, in welcher viel musiziert und gesungen wurde.
Meine Geliebte und ich waren gefordert. Hebräisch war die Standardsprache in den sakralen 135 Minuten.
Seite 1 des Gebetbuchs fand sich hinten, hebräisch wird von rechts nach links geschrieben und gelesen.

Eyal beherrscht, wie seine ganze Familie, hebräisch. Gekonnt las er seinen Tora-Abschnitt vor, reflektierte danach auf Englisch über das Vorgelesene.
Zur Würdigung und als Belohnung wurde er danach mit Bonbons beworfen.

Zwei Frauen entnahmen dem Schrein, abgedeckt durch einen Vorhang, zwei der fünf reich dekorierten, riesigen Torarollen. Eine durfte Eyal zweimal durch den Raum tragen. Alle Anwesenden bildeten einen Halbkreis, berührten die heilige Schrift mit dem Gebetsbuch.
Danach wurden die Rollen ausgerollt. Der Rabbiner wählte eine Stelle aus, deutete mit dem Jad, ein silberner Torazeiger, auf sie. Das Pergament darf mit der Hand nicht berührt werden.
Bevor er den ausgesuchten Text vorlas, berührte Eyal mit einem Schaufaden seines Tallits die Textstelle und küsste den Zipfel seines Gebetsschals.
Seine Familienmitglieder wiederholten dieses Ritual.
Während die Gemeinde sang, rollte der Rabbiner die Rollen ein, die beiden Frauen banden sie liebevoll zusammen und stellten sie zurück in den Schrein.

Im Schlussgebet bat der Rabbiner für Frieden im Gazastreifen, rief eindringlich zu Toleranz auf.
German, der Vater von Eyal, und Marli, meine Geliebte, hatten sich vor 37 Jahren im Kibbuz Magen, direkt am Gazastreifen gelegen, kennen gelernt.
Am 7. Oktober 2023 versuchten Hamas-Kämpfer in dieses Kibbuz einzudringen. Dem lokalen Verteidigungskomitee gelang es den Angriff abzuwehren. Ein gemeinsamer Bekannter von German und meiner Partnerin wurde in diesem Gefecht schwer verletzt.

Vor dem anschliessenden reichen Apéro versammelte sich die Gemeinde im Vorraum, wo der Kiddusch, die Segnung des Weins, und die Segnung des dargebrachten Brots mit einem stimmungsvollen Gesang feierlich abgerundet wurde.

Shabbat shalom, lieber Eyal.

11. Juli 2024

3 Kommentare

  • Lieber Markus
    Vielen Dank für diesen authentischen religiös-bezogenen Text.
    Er gefällt mir sehr.
    Als Historiker missfällt mir die aktuelle Kriegspolitik Israels als Gegensatz sehr. Gerade heute starben mehr als 70 Menschen in „sicheren“ Flüchtlingsunterkünften durch Bombardierungen, welche einem einzigen Hamasanführer galten, der notabene nicht getötet wurde.
    Ich verstehe diese rechtsreligiös zusammengestellte Realpolitik dieser Regierung absolut nicht.
    Lieben Gruss
    Beat

  • Lieber Markus, mit grossem Interesse habe ich diesen Bericht gelesen. Als ich noch in Davos arbeitete hatte ich viel mit jüdischen Patienten zu tun, mein Arzt, wo ich viele Jahre gearbeitet hatte, war Chefarzt der jüdischen Heilstätte. Es waren alles Menschen die schreckliches in Konzentrationslagern erlebt hatten. Mit viel Liebe und Einfühlungsvermögen konnten wir uns langsam diesen Menschen wieder näheren und ihr Vertrauen gewinnen. So konnten wir vielen sehr kranken Menschen helfen, nicht nur physisch, das war für mich eine beglückende Zeit. So entstanden schöne Freundschaften, die für alle sehr wertvoll waren.
    Mit lieben Grüssen Cécile