Paradies!?

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Heute Abend treffe ich Marco.
Er lebt mit seinem Onkel, hatte letzten Sonntag Geburtstag, arbeitet viel, ist sehr schüchtern, unsicher und bekundet Heimweh nach Apulien und seiner Familie, welche dort lebt.

Seit Kurzem unterstütze ich ihn in schulischen Belangen. Marco hat Freude, dass ich von seiner Heimatregion schwärme.

Unsere Familie geniesst das günstige Sein in dieser paradiesisch schönen und historisch interessanten Provinz.
Karibische Gefühle kommen auf beim Anblick des kristallklaren Wassers bei Gallipoli, wo das im Meer versenkte Bettgestell einem Schaufensterangebot gleicht.

Wie Marco verlassen auch heute noch viele Menschen auf der Suche nach einem sichereren Leben schweren Herzens den Stiefelabsatz Italiens, der ihnen kein Auskommen bieten und keine Zukunft verheissen kann.

Pietro immigrierte vor Jahrzehnten in die Schweiz, arbeitete körperlich enorm hart in verschiedenen Fabriken, gründete eine Familie und plante nach seiner Pensionierung in Apulien zu leben.
Jetzt bietet er sein Haus dort zum Verkauf an. Die Nähe zu seiner Tochter, zu ihrer Familie hier hat für seine Frau und ihn Priorität.

Tommaso, gelernter Drucker, floh mit seiner Familie vor der Arbeitslosigkeit.
Hier arbeitet seine Frau tagsüber, er fährt jeden Abend nach Schafisheim, wo er die Nacht hindurch in der Zentralbäckerei von COOP arbeitet. Die beiden Söhne absolvieren eine Berufslehre.

“Dolce far niente” kannten Pietro und Tommaso nicht, Disziplin und die Bereitschaft hart zu arbeiten dagegen sehr.
Ob sie sich hier im Paradies wähnen weiss ich nicht.

Enorm berührt hat mich in den letzten Jahren auch die Haltung vieler Berufsbildner/innen, welche jungen Menschen wie Marco, die der deutschen Sprache noch nicht mächtig sind, eine Berufslehre ermöglichen.
Ich durfte engagierte und grosszügige Frauen und Männer kennenlernen, welche in ihren Schützlingen nicht bloss eine Arbeitskraft sehen, sondern einen Menschen mit vielleicht noch nicht offen gelegten Qualitäten.

Immer wieder staune und freue ich mich über die positiven Effekte dieser optimistischen Grundhaltung.

10. März 2021

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