Vorgestern Morgen besuchten wir Irene und Chico.
Sie betreiben in Luzerna eine Tankstelle und einen kleinen Einkaufsshop, vermitteln Pflegepersonal, tauschen Checks in Bargeld um.
Stolz zeigte mir Chico die amtlichen Urkunden seiner Grossmutter Marie.
Sie, 1901 geboren, war heimatberechtigt in Riehen und lebte bis zu ihrer Ausreise 1921 nach Brasilien im Aargauer Dörfchen Rottenschwil.
Auf ihrem Schweizer Reisepass, ausgestellt in französischer Sprache, blickt mich eine ernst dreinblickende Frau mit kurzem dunklem Haar und dunkler Kleidung an.
Ihre linke Hand umklammert ihr rechtes Handgelenk. Kein Anzeichen eines Lächelns ist erkennbar.
War sie traurig ihr Dorf im Reusstal zu verlassen? Machte ihr der Abschied von Freundinnen, Verwandten, welche sie nie mehr sehen würde, zu schaffen?
Erfüllte sie die kommende Reise mit Vorahnungen?
Folgte sie ihrer Familie contre coeur?
Chico konnte mir nicht sagen, warum seine Grossmutter a Suiça verliess.
Sicher trieb Hoffnung auf ein besseres Leben die Familie Schultheiss aus der damals noch nicht wohlhabenden Schweiz.
Das erhoffte Paradies trafen Marie und ihre Familie nicht an.
Endlich an ihrem neuen Wohnort nahe bei Luzerna im Bundesstaat Santa Catarina angekommen, trafen sie auf Urwald, auf eine ihnen unbekannte, grösstenteils noch unerschlossene Welt.
Vor dem Hungertod retteten sie gütige Nachbarn. Ihr erstes Zuhause sicherte fester Stoff, aufgespannt zwischen Bäumen.
1927 heiratete Marie Francisco Hachbarth. Sie gebar 3 Töchter und 4 Knaben, arbeitete ihr Leben lang auf ihrem Bauernhof.
Ihren Traum, Rottenschwil wieder zu sehen, gab sie nie auf. Er blieb unerfüllt.
Ihrem Todesschein entnehme ich, dass Marie am Samstagmorgen, 18. Juni 1977 an einem Lungenödem verstarb.
Sie liess ihren Ehegatten, ihre Kinder und Enkelkinder und keinen Besitztum zurück.
Meine Schwiegermutter Julieta, geboren 1929, wuchs in ähnlich kargen Umständen, wie Marie sie erlebte, auf. Oftmals teilten sie und ihre Schwester sich 1 Ei zum Essen.
Mit 13 wurde Julieta für 3 Jahre nach São Paulo geschickt, wo sie bei einer vermögenden Familie von Montag bis Montag von 5 Uhr morgens bis 22 Uhr abends alle möglichen Arbeiten verrichtete.
Einmal im Monat durfte sie in den Gottesdienst gehen, ansonsten war Arbeit für einen Hungerlohn angesagt, welchen sie ihren Eltern schickte.
Gerne wüsste ich, welche Kenntnisse von Santa Catarina Familie Schultheiss vor ihrer Reise hatte.
Dieser brasilianische Bundesstaat erlebte immer wieder unruhige, kriegerische Zeiten.
Einerseits bekriegten sich bis 1916 die brasilianischen Bundesstaaten Paranà und Santa Catarina um die Region, wo Marie schlussendlich leben sollte.
Andererseits schlug das brasilianische Militär immer wieder Aufstände verarmter Menschen nieder, welche von Geistlichen angestachelt wurden, die ein besseres Leben auf Erden versprachen.
Ab 1936 durfte Marie sich nicht mehr dabei ertappen lassen, Deutsch zu sprechen.
Die brasilianische Regierung befürchtete die Infiltration von faschistischem Gedankengut und verbot den ImmigrantInnen aus deutschsprachigen Staaten und aus Italien die Benützung ihrer Heimatsprache.
Die wirtschaftliche Misere in Brasilien verursachte in den letzten 30 Jahren eine Auswanderungswelle von Frauen und Männern in die Heimatstaaten ihrer Ahnen.
Glück hatte, wer sich auf italienische Wurzeln berufen konnte. Diesen Pass erhielt man am schnellsten.
Meine Geliebte und unser jüngerer Sohn besitzen den italienischen Pass, weil 1894 Vorfahren meiner Schwiegereltern aus Italien sich im Süden Brasiliens niedergelassen hatten.
Anch’io posso diventare italiano, se io voglio.
Wie beurteilte schlussendlich Marie Schultheiss den Entschluss nach Brasilien auszuwandern?
Isso é uma boa pergunta.
31. März 2022
Danke lieber Markus für die berührende Geschichte . Man kann immer nur von herzen dankbar sein, dass wir hier leben dürfen.
Cécile
Unglaubliche Geschichte!
Ich stelle fest: uns geht es unendlich gut in der Schweiz.
Lieben Gruss
Beat