Ravenna

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Beträchtlich ist seine Neigung nach rechts.
Vor 1000 Jahren von einer reichen Familie erbaut, aus Sicherheitsgründen im Jahr 2000 um 13 Meter gekürzt, hängt der Torre Civica 40 Meter schief über der Altstadt Ravennas.
Er hat Symbolkraft, ist gealtert, steht irgendwie, von Eisenklammern zusammengehalten, dem nachgebenden Boden, der Hitze und Kälte, den historischen Ereignissen und den Touristenscharen trotzend.

Ravenna, einst eine bedeutende Küstenstadt, steht heute auf dem Trockenen. 9 Kilometer weit hat sich das Meer zurückgezogen.
Dieses erreichten wir mit dem Bus, Nummer 70, in 30 Minuten vom Bahnhof aus. Für eine Fahrt zahlten wir 1,5 Euro, in Venedig kostete eine Fahrt mit dem Wasserbus 9,5 Euro.

Im Sommer reihen sich sulla spiaggia über Kilometer hinweg Sonnenschirme und Liegestühle aneinander.
Im Oktober 2023 geniessen Möwen und wir die einsamen Sandstrände und die warme Adria.
Ein riesiges Fischskelett lockt Bienen an, verbreitet einen unangenehmen Geruch.
Nie zuvor sahen wir so viele Muscheln an einem Strand.

Wir entspannen uns, schwelgen in den Eindrücken unserer Museums- und Kirchenbesuche.
Ravenna war vor langer Zeit Hauptstadt mehrerer Imperien, welche alle ihre Macht dekorativ zur Schau stellten.
Heute beherbergt diese sympathische Stadt acht Gebäude, welche zum Weltkulturerbe der UNESCO gehören.

Zuerst besuchten wir die Kirche San Vitale. Niedrig ist das Gebäude, düster der Eingangsbereich, leuchtend hell dagegen der Innenraum.
Riesige, farbige Mosaikbilder an den Wänden und an der Decke lassen den Kirchenraum erstrahlen, verbreiten Wärme, schenken Glücksgefühle.
Ich habe Gänsehaut, kann mich an den Details der kleinen bunten Steine nicht satt sehen.
Wie oft hatten die Meister vor 1500 Jahren zurücktreten, von den Gerüsten runtersteigen müssen, um sich von der Wirkung ihrer Kunstwerke aus grösserer Distanz zu überzeugen?
Was von Weitem perfekt angeordnet wirkt, offenbart aus der Nähe kleine Lücken, Unebenheiten.
Niemand spricht, wir staunen, saugen auf.
Ich bin überwältigt.

Ein Kombiticket für den Besuch von fünf Örtlichkeiten, welche Mosaik-Weltwunder beherbergen, kostet 12,5 Euro.
Wir nehmen uns Zeit, verteilen den Genuss auf zwei Tage.

Am letzten Tag besuchten wir Rimini, 55 Zugminuten von Ravenna entfernt.
Bisher hatte ich von dieser Stadt, sie begründete den Strandtourismus in Italien, während früheren Zugfahrten nach Apulien lediglich Algenteppiche und ein Meer an Sonnenschirmen durch das Zugfenster wahrgenommen.

Das Ehepaar genoss das Schlendern über den riesigen Markt, durch die Altstadt, staunte über die 2000 Jahre alte römische Brücke, ponte dei Tiberi, welche man zu Fuss oder auf dem Fahrrad überqueren kann.
Neben ihr staut sich der moderne Verkehr, hupend und stinkend.
Riesig und Respekt einflössend ist der Augustusbogen. Eine Gedenktafel erinnert an einen neunzehnjährigen Mann, welcher 1944 hier erschossen wurde, als kanadische und griechische Truppen mit Unterstützung italienischer Partisanen die Deutschen aus der Stadt vertrieben.

Die Natur scheint das ehemalige Amphitheater, es steht neben dem Parkplatz eines Supermarktes, zurückerobern zu wollen.
Von den Schäden, zugefügt von den Bombardierungen der Alliierten und von den Kämpfen im Zweiten Weltkrieg erholte es sich nicht mehr.
Dass über zwölftausend Menschen hier einst lautstark Anteil an den blutrünstigen Gladiatorenkämpfen und den Tierhetzen genommen hatten, übersteigt mein Vorstellungsvermögen.

Elegant, modebewusst flanieren viele italienische Frauen und Männer durch das Stadtzentrum, parlano laut und con le mani.
Vor den Bahnhöfen sitzen viele dunkelhäutige Migranten.

In mehreren Gesprächen nahmen wir Unmut und Frustration italienischer Frauen und Männer über die Einwanderungspolitik der italienischen Regierung und der EU wahr.
Während einer Busfahrt befürchteten wir Handgreiflichkeiten gegenüber einem jungen Mann aus Afrika.

Auf der Heimreise hält unser Zug in Chiasso längere Zeit. Er setzt sich erst wieder in Bewegung, nachdem Schweizer Grenzwächter einen schlanken, jungen Mann in Gewahrsam genommen und auf das Perron geführt haben.
Umringt von fünf uniformierten Männern schaut er den anrollenden Bahnwagen nach.
Das Ehepaar schweigt, betreten und nachdenklich.

14. Oktober 2023


1 Kommentar

  • Lieber Markus
    Danke für die spannenden Eindrücke einer 2000 Jahre alten Kulturecke Italiens.
    Ich glaube, in Ravenna sind auch Barbarenkönige begraben, nach dem Untergang Roms.
    Lieben Gruss
    Beat