Pozzallo

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Um 12:40 Uhr stieg das Ehepaar am zweitletzten Septemberdienstag 2025 in Catania in den Zug “regionale veloce” nach Syrakus, Die digital gekauften Tickets wurden automatisch zur Abfahrtszeit entwertet. Der Bahnhof von Augusta stank. Öltanks in der Nähe verpesten die Luft und vielleicht anderes auch. Kurz vor Syrakus, dessen Bahnhof einer Totalrevision unterworfen ist, flirtete zwischendurch das Meer mit uns. Züge fahren nicht mehr nach Pozzallo, unser Zielort. TrenItalia setzt jetzt Busse ein. Sie winden sich durch enge Kurven zu den Zwischenstationen. Fast drei Stunden waren wir insgesamt unterwegs.  
Auf der Rückfahrt benötigte die Busfirma Azienda Siciliana Trasporti lediglich 75 Minuten, dies zu einem günstigeren Tarif.

Die sympathisch unspektakuläre Hafenstadt, mit dem Fährboot ist Malta in 90 Minuten erreichbar, garantiert im Herbst sommerliche Temperaturen. Nach Pozzallo kommt, wer Lust auf sole und spiaggia hat.
In der Nähe locken Syrakus, Ragusa, Noto und Modica mit ihrem barocken Erscheinungsbild kulturell Interessierte an.

An der Viale Europa stiegen Frau und Mann ein und aus. Bei der Cartoleria Blanco, eine Papeterie, welche auf 20 Metern Länge alles Wünsch- und Undenkbare in einem herrlichen Durcheinander offeriert, geht es links runter zum Meer und zum Ortskern.
Nach 10 Metern könnten wir in einem tempelartigen Wettbüro uns vor riesigen Bildschirmen vertun. Oder im Konkurrenzunternehmen 30 Meter weiter unten.
Zwischen diesen Hallen bietet ein sehr sympathischer Mann in einem fein riechenden Lokal auf kleiner Fläche Nüsse und Kräuter an.
In den Seitenstrassen rechts und links reihen sich vor den gedungenen Gebäuden Autos aneinander, Bäume haben keinen Platz.

Bei der Bar Amiri bogen wir links ab. In diesem kleinen Gastrobetrieb wird auf Wunsch Pfirsichmarmelade in das Cornetto eingefüllt. Die Bedienung zieht Handschuhe an, spritzt mit chirurgischer Präzision langsam das gelbliche Süss in den Bauch des Hefegebäcks, bis dieser sich wohlig wölbt. Es bedarf Konzentration beim Reinbeissen um sich nicht voll zu kleckern.
In der engen Gasse Belvedere 7 genossen wir in der kommenden Woche auf der dritten Etage das Sein und den Blick auf das Meer. 

Vor sieben Uhr morgens verfolgte ich jeweils das Auftauchen der Sonne. Auf Kommando stemmten wunderbare Mächte sie präzise und schnell über den linken Horizont hoch.
“Ich weiss nicht, wer die Welt erschuf, aber ich weiss, diese Kraft war verliebt”, so endet der wunderbare Song “sogna ragazzo, sogna” von Roberto Vecchioni, welcher ermutigt mehr an sich zu glauben und nicht viel auf Kommentare anderer Leute zu hören.

Vor uns breitete sich der Strand Pietre Nere aus. 3 Lidos waren noch geöffnet. Manchmal signalisierte beim rechten Lido die gelbe Flagge Vorsicht beim Baden. Im mittleren Lido hiess die grüne Fahne Badende herzlich willkommen, während links das rote Banner das Eintauchen ins Meer untersagte.
Um 08:30 Uhr eröffneten wir regelmässig den Betrieb mit der grünen Wimpel. Eine Stunde später schlurfte der Rettungsschwimmer an den Strand, installierte sich und richtete den ganzen Tag mit Hingabe seinen Fokus auf sein Natel.

Mann wird im Meer zum Kind, im Spiel mit den Wellen zum Kleinkind. Wir erlebten traumhafte, friedliche Tage sulla spiaggia.

Unwirklich erscheint die Tragödie, welche sich vor Pozzallo immer wieder abspielt. Boote, gefüllt mit Flüchtlingen, starten an der lybischen Küste, erleiden vor Pozzallo und Lampedusa Schiffbruch. Wer Glück hat, wird von der italienischen Marine oder Rettungsschiffen aufgegriffen und beispielsweise nach Pozzallo gebracht, wo in der Nähe des Hafens die Erstbefragung stattfindet.
Eine Urnenwand im Friedhof von Pozzallo zeugt dagegen vom Schicksal vieler Frauen und Männer, welche nicht gerettet werden konnten.
Dies alles scheint weit weg stattzufinden, für uns nicht wahrnehmbar!

Ich mag die Bankkultur in Pozzallo. Im nicht pittoresken Zentrum und der gesamten Strandpromenade entlang reihen sich in kurzem Abstand diese Sitzgelegenheiten. Auf einzelnen Bänken scheinen Männer in meinem Alter ein Dauerabonnement zu besitzen, tutti i giorni sitzen sie, schauen, schweigen, parlieren, warten. Abends schlürfen Paare und Familien sitzend ihre gelato.
Welches wäre meine Bank, wenn ich hier leben würde?

Mein Lieblingsort in Pozzallo ist der kleine Stadtpark im Zentrum. Ab 16 Uhr geniessen Tausende kleiner Vögel ihre happy hour auf den Liguster- und Gummibäumen. Ihr Zwitschern, Singen, Pfeifen, Zirpen, Tirilieren und Piepsen übertönen das Rauschen des Meeres, den Lärm des Autoverkehrs. Das Interesse der TouristInnen ist ihnen sicher. Mit offenem Mund starren sie zu den Baumwipfeln, aus denen zuweilen etwas auf den Boden fällt. Der Versuch, die Lautstärke des regen Austauschs mit einem Schallpegelmesser zu eruiieren, stört die Vogelschar nicht.

Am Sonntagabend fand das Fest der Madonna del Rosario statt. Ihre Statue wurde nachmittags aus der Kirche und durch Pozzallo getragen. Abends versammelten sich in der wunderbaren Stadtkirche alle Träger zu einem Selfie vor der Statue, bevor sie mit viel Aufheben wieder an ihren Stammplatz vor dem Seitenschiff gehievt wurde. Das Treiben in der Kirche glich einem gesellig fröhlichen Sportanlass. Derweil versorgten zwei dunkelhäutige Frauen in schneeweissen Nonnentrachten mit ernstem Gesicht Kerzen im Altarraum.
100 Meter weiter führten auf einer Bühne Mädchen und junge Frauen Tänze auf, während auf der anderen Strassenseite süsse Krapfen frittiert und verkauft wurden.

Am letzten Tag schwärmte eine junge Frau, während sie uns einen Espresso servierte, von ihren Ferien in Sharm El-Sheik in Ägypten. Ein grosses Manko für sie war das Fehlen italienischer Gerichte am Buffett ihres Hotels.
Niente é perfetto, so vieles aber wunderbar!

12. Oktober 2025



3 Kommentare

  • Lieber Markus
    Wunderbare südliche Momente eingefangen in schon fast prosahaften, farbigen Wortwolken. Ein Genuss, den Text zu lesen. Danke .
    LG
    Beat

    • Wunderbar, lebendig und farbenfroh hast Du diese herrlichen Eindrücke in mein Stûbchen geschickt. So klar, dass ich von jedem Satz ein Bild malen kõnnte
      Herzlichen Dank Cécilr