Herbsttage in Venedig

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Amseln hüpfen von einem Feigenbaum zum andern. Kleine Echsen kleben an der Hausfassade, schauen uns zu.
Zwischen Rosmarin, Basilikum, Salbei, Thymian und einer abgestorbenen Birke, welche heute Gastgeberin für schlanke Buchenäste ist, dehnen wir uns, erproben einfache Yoga-Positionen.
Es ist warm, die Sonne saugt die Nebelschwaden über dem Wasser langsam auf.
Mariana, Nichte meiner Geliebten, leitet uns im paradiesisch anmutenden Innengarten eines wuchtigen, klotzig wirkenden Gebäude an der Fondamenta della Misericordia in Venedig an.

Ein Motorboot auf dem Rio de Misericordia, sein Nebenarm befeuchtet die Fassade unseres Gasthauses, unterbricht die Sonntagsruhe.
Unsere Glieder sind steif. 8,5 Stunden sassen wir am Vortag auf unserer Zugreise. Willkommen waren das Umsteigen in Zürich, Lugano und Mailand.

Der Aufenthalt im Bahnhof der norditalienischen Metropole ist immer wieder ein Spektakel. Menschenmassen blockieren einander, starren auf die riesigen Bildschirme, wartend auf die kurzfristige Information, auf welchem Perron ihr Zug abfahren wird.
Nach der Bekanntgabe verschieben sich Einzelne, riesige Koffer stossend, ziehend, erreichen irgendwie ihren Zug.

Der Kontrast zu spanischen Bahnhöfen ist total.
Ähnlich wie auf einem Flughafen warten dort die Passagiere in den Wartehallen, bis ihr Zug aufgerufen wird. Vor dem menschenleeren Perron erfolgt die Personenkontrolle, das Gepäck wird gescannt.

Pfeilschnell und elegant saust der Frecciarossa durch die Lombardei zur Hauptstadt der Region Veneto.
Vor Brescia kommt der Schnellzug zum Stehen, dem Entschärfen einer Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg geschuldet.

Am Endbahnhof Santa Lucia bahnen wir uns einen Weg durch die dicht gedrängten Touristenscharen.
Ich bin froh, dass wir keinen Rollkofer über die Pflaster und die vielen Brücken der Lagunenstadt ziehen müssen.
Wieder habe ich das Gefühl nach dem Eintauchen in die Altstadtgassen Venedigs auf einer riesigen Theaterbühne zusammen mit sehr vielen StatistInnen zu wirken.
Magisch wirken auf mich die Absenz von Automobilen und Fahrrädern, das Tuckern der Motorboote, das langsame Gleiten der Gondeln auf den verschiedenen Wasserläufen.

Wir sind Gäste von Mariana. Sie präsentiert ihre Bildkunst an der Venice Art Fair.
Zusammen flanieren wir zum Markusplatz, recken mit allen Anwesen den Kopf hoch, um den Markusdom zu bewundern.
Ich liebe die Sicht über die Lagune, das Schlendern ihr entlang.

Nach 10 Minuten sind wir im Stadtteil Castello fast alleine unterwegs. Wohlhabend wirkende Häuser säumen die breite Strasse, welche zum ehemaligen Asenal führt.
Ursprünglich beheimatete dieses riesige Gebiet Schiffswerften und das Zeughaus. Es diente auch als Flottenbasis der ehemaligen Republik Venedig.
Scheinbar war das Arsenal jahrhundertelang die grösste Produktionsstätte Europas.

Heute organisiert die Biennale Venedig hier Ausstellungen, aktuell findet die Architektur-Biennale statt.
Mich beeindrucken die Anzahl und die Grössen der uralten, dunklen Fabrikhallen, welche die Visionen, die Tatkraft, das Organisationsgeschick der Veneter erahnen lassen

Ich sehe Parallelen zur Familie meiner Geliebten. Ihre Ahnen flüchteten vor 130 Jahren vor der Wirtschaftskrise im Veneto nach Brasilien.
Dort baute der Grossvater meiner Ehefrau zusammen mit seinen Verwandten in Joaçaba am Rio do Peixe zuerst ein kleines Wasserkraftwerk und dann eine sehr grosse Landmaschinenfabrik auf.
Lebenskraft pur.

Leider berühren die aktuell präsentierten Kulturobjekte der Biennale unsere Herzen nicht.
Non c’é problema!


2. Oktober 2023


1 Kommentar

  • Lieber Markus
    Gerne bin ich deinen Gedanken gefolgt von der Schweiz bis Venedig und Brasilien. Schön wars.
    Ich sitze direkt am Seeufer in Lindau im Camper und geniesse das Leben .
    Habe deine Geschichte Susan, meiner Partnerin, vorgelesen, welcher die Story sehr gefallen hat. Danke vielmals.
    Lieben Herbstgruss
    Beat